Nach einem 14-stündigen Verhandlungsmarathon haben Lawrow und Kerry, die beiden Außenminister von Russland und USA, am 9. September fünf geheime Verträge unterzeichnet. In diesen geht es unter anderem um eine Waffenruhe in Syrien. Sollte die Waffenruhe eine Woche anhalten, sollen laut Vertrag Russland und USA zu einer militärischen Kooperation im Kampf gegen IS und Al Nusra übergehen.
Das Pentagon in Vertretung des US-Verteidigungsministers Carter versuchte den Deal zu vereiteln und protestierte heftig. Obama stimmte aber zu. Carter und Obama vertreten jeweils die radikalen und die moderaten US-Eliten. Sie stoßen im Weißen Haus nicht zum ersten mal aneinander. Das moderate Lager erkennt den sinkenden Stern der USA und ist zu Kompromissen bereit, um den USA in der neuen Weltordnung einen guten Platz zu sichern. Das radikale Lager ist zu keinen Zugeständnissen bereit und besteht auf den Erhalt der totalen US-Hegemonie, auch um den Preis eines dritten Weltkrieges. Das ist der Streitpunkt, an dem die US-Eliten auseinander und aneinander geraten sind. Der interne Machtkampf wird längst öffentlich geführt. Der mit Moskau ausgehandelte Deal hat die Kluft zwischen den beiden Lagern vergrößert, wie die New York Times berichtet. Der Verteidigungsminister und seine Generäle verweigern dem Präsidenten offen die Gefolgschaft:
On Tuesday at the Pentagon, officials would not even agree that if a cessation of violence in Syria held for seven days — the initial part of the deal — the Defense Department would put in place its part of the agreement on the eighth day: an extraordinary collaboration between the United States and Russia that calls for the American military to share information with Moscow on Islamic State targets in Syria.
Am zweiten Tag der Waffenruhe verkündete das Pentagon, dass es nicht unbedingt bereit ist, am achten Tag, wie vereinbart, zur Kooperation überzugehen, selbst wenn die Waffenruhe eine Woche hält. So sieht eine Meuterei aus.
Kerry und Obama kämpfen weniger gegen Russland, sie kämpfen mehr gegen die eigenen Kollegen. Seit Beginn des russischen Militäreinsatzes in Syrien bemühen sich Kerry und Obama um einen Kompromiss und genauso lange fällt ihnen das Pentagon in den Rücken, sobald ein Kompromiss näher kommt. Das konnte dieses mal auch nicht anders sein. Der verbalen Absage hat das Pentagon Taten folgen lassen. Am sechsten Tag der Waffenruhe bombardierte das US-Militär Stellungen der Syrischen Armee bei Deir ez-Zor. Über 60 Tote und über 100 verletzte Soldaten waren die Folge. Russland berief eine Sondersitzung im UN-Sicherheitsrat ein, bei der sich die Vertreter von Russland und USA scharfe Wortgefechte lieferten.
Das pikante an dem Bombardement war, dass der IS dabei in eine Großoffensive gegen die bombardierten Stellungen gegangen ist. Es gibt keine spontanen Großoffensiven, die man startet, wenn man in der Nähe der eigenen Stellungen viele Bomben fallen hört. Die Angriffe der USA und des IS gegen die Syrische Armee waren koordiniert.
Das Ziel dieser Operation war der Bruch der Waffenruhe und die Vereitelung der Umsetzung der Verträge, die Kerry und Lawrow ausgehandelt haben. Im obigen Zitat ist klar ausgesprochen, dass das Pentagon eine Zusammenarbeit mit Russland zur Bekämpfung des Terrorismus in Syrien verhindern will. Die unverhohlene und provokative Zusammenarbeit mit dem IS sollte Streit zwischen Russland und USA sähen, um die geplante Zusammenarbeit zu vereiteln. Das Pentagon hat es nicht darauf ankommen lassen, die Waffenruhe eine Woche lang anhalten zu lassen. Sicher ist sicher.
Das ist schlecht für die USA. Der Krieg in ihren eigenen Reihen wird stärker und offener. Das gibt Moskau zunehmend bessere Möglichkeiten, die beiden Kriegsparteien in den USA gegeneinander auszuspielen. Kerry und Obama werden sich wie unartige Schulbuben vor Lawrow und Putin verantworten müssen. Kerry wird in den kommenden Verhandlungen weitere Zugeständnisse machen müssen, weil es die US-Seite ist, die ihren Teil der Deals nicht einhalten kann. Im Weißen Haus werden die Fetzen fliegen und die US-Eliten werden sich noch stärker ineinander verbeißen. Die Mühlen der russischen Diplomatie mahlen langsam, aber sie zwingen die USA immer stärker in die Ecke. Jeder neue Vertrag geht ein Stück weiter als der Vorhergehende. Mit jedem neuen Vertrag wird die Kluft zwischen den US-Eliten ein Stückchen größer.
Nebenbei bemerkt spielt der Vorfall Trump in die Hände. Clinton ist die Nachfolgerin von Obama und Obamas Team unterstützt den IS. Darauf kann Trump herumreiten, falls es ihm an schmutziger Demokraten-Wäsche mangeln sollte.
Aber das alles ist nur die Spitze des Eisberges. Lawrow und Kerry unterzeichneten fünf geheime Verträge. Einer für die Waffenruhe und die anschließende Zusammenarbeit. Und die anderen vier? Oder haben sie für jede Facette der Waffenruhe einen eigenen Vertrag ausgehandelt? Klingt unnötig. Aber beschränken wir uns auf das Sichtbare. Die Verhandlungen fielen zeitlich zusammen mit dem G20-Summit in China. Die Staatschefs vereinbarten die grobe Richtung und die Außenminister setzten sich anschließend an die Feinarbeit. Auffallend, dass die geheimen Verträge von EU, Deutschland, Frankreich und GB voll unterstützt wurden. Das bedeutet, dass der Inhalt der Verträge zumindest mit Europa abgesprochen ist. Die türkische Regierung wurde über die Verträge informiert und hat sie anschließend begrüßt. Die einzigen Unglücklichen waren die “oppositionellen” Kampftruppen in Syrien. Sie sahen keine Chance, dass die Waffenruhe halten könnte. So sieht ein großer Deal aus. Alle großen Fische grunzen zufrieden und die kleinen Fische, deren Todesurteil unterschrieben wurde, kläffen unzufrieden.
Noch ein wichtiges Detail ist, dass zur Verkündigung der Verhandlungsergebnisse UN-Sondergesandter für Syrien Staffan de Mistura zu Kerry und Lawrow auf die Bühne gezerrt wurde und seinen Senf beisteuern konnte. Die US-Medien haben diesen Moment weitgehend ausgeblendet, während die russischen Medien es deutlich stärker in den Fokus gerückt haben. Das ist kein Zufall. De Mistura hat natürlich nichts zu sagen bei der Klärung der Syrien-Frage. Seine Rolle beschränkt sich darauf, Presse und die verschiedenen Verhandlungsgruppen bei Laune zu halten, während die großen Jungs die Entscheidungen fällen. Russland zerrt ihn aber auf die Bühne, um die Bedeutung der UN zumindest symbolisch zu untermauern. Sie erinnern sich, Moskaus diplomatische Mühlen mahlen langsam. Eine symbolische Geste hier, ein UN-Sicherheitsrat-Beschluss dort. Moskau will die UN wieder auf die Beine stellen.
Die UN ist im Kern ein Bündnis der Sieger des Zweiten Weltkrieges. Und die Kernfunktion der UN ist es, die offen verfeindeten Sieger des Zweiten Weltkrieges vom dritten Weltkrieg abzuhalten. Manche meinen, dass die UN ineffizient ist, weil sich die Siegermächte mit dem Vetorecht dauernd gegenseitig blockieren. Aber gerade dieses gegenseitige Blockieren bewahrte für Jahrzehnte sehr effizient das Kräftegleichgewicht und verhinderte eine große Eskalation. Es wurden immer irgendwo Kriege geführt, aber sie eskalierten nie zu einem Weltkrieg, obwohl die Interessen der großen Mächte immer unmittelbar betroffen waren. Die UN zwang die Siegermächte immer an den Verhandlungstisch und das Vetorecht zwang zu Kompromissen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wollten sich die USA von den UN-Fesseln freimachen. Jugoslawien wurde völkerrechtswidrig ohne UN-Mandat angegriffen und zerbombt. Das von der UN bewachte Völkerrecht wurde schleichend ersetzt durch “Verbreitung von Demokratie” und “Kampf gegen den Terrorismus”. Die Schirmherrschaft ging an die US-kontrollierte NATO über. Damit entzogen sich die USA der UN-Kontrolle und begannen in aller Welt zu wildern.
Russland ist gerade dabei, diesen Prozess umzukehren und der UN ihre wichtige Bedeutung zurück zu geben. Nicht zufällig versucht Russland jede Streitfrage mit einer UN-Resolution anzugehen. Die Minsker Abkommen zur Lösung der Ukraine-Kriese wurden mit einer UN-Resolution untermauert. Zu Syrien gibt es drei Resolutionen. Für diesen Wunsch muss Russland bezahlen. Für diesen Wunsch fordern die USA Zugeständnisse ein. Die Konflikte lösen sich nicht so schnell wie sie es sollten. Aber die Stärkung der UN bringt uns zurück auf den Weg, auf dem sich die großen Mächte mittels der UN gegenseitig kontrollieren.
Die Tatsache, dass im Einvernehmen aller großen Spieler geheime Verträge unterzeichnet wurden, ist ein gutes Signal. Ein großer Teil der weltweiten Eliten ist sich einig. Die Radikalen geraten zunehmend ins Abseits. Und mit Aktionen wie der offenen Unterstützung des IS bringen sie sich nur weiter ins Abseits.
Die Verträge werden übrigens nicht nur vor uns Sterblichen geheim gehalten. Sondern auch vor denjenigen Eliten, die ein Interesse an der Vereitelung der Verträge haben.
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