Papst vs Dostojewski

Am 4. Juli 2019 hat sich Wladimir Putin im Vatikan mit Papst Franziskus getroffen. Putin hatte eine Delegation von Ministern im Schlepptau, die er dem Papst vorstellte. Putin traf sich nicht nur mit dem Papst, sondern anschließend auch mit dem Staatssekräter Vatikans. Über die Inhalte der Gespräche wurde auf der Kreml-Seite nichts bekannt gegeben.

Was zum Teufel hat Putin mit dem Papst zu besprechen? Und dann noch mit dem Staatssekräter des Vatikan? Zum Spaß treffen sie sich jedenfalls nicht.

Am Abend des gleichen Tages nahm Putin zusammen mit Italiens Ministerpräsident Guiseppe Conte an einer Veranstaltung teil und sagte dort unter anderem folgendes:

Und natürlich verbinden uns geschichtsträchtige und tiefe kulturelle Verbindungen. Lieber Guiseppe, du hast die russische Literatur erwähnt. Ich muss sagen, wir hatten dieses Thema auch im Gespräch mit dem römischen Papst. Und der Pontifex erlaubte mir öffentlich auszusprechen, dass eines der Bücher, das immer auf seinem Tisch liegt, ein Klassiker der russischen Literatur ist, das sind sowohl Dostojewski als auch Tolstoi.

Eigentlich sagte er sogar mehr. “Ich”, so sagte er, “sage meinen Priestern, dass man ohne die Bücher von Dostojewski, ohne die Bewusstmachung seiner Philosophie in all ihrer Tiefe, nicht ein wirklicher Priester sein kann”.

Wissen sie, das sagt vieles aus. Das sagt uns etwas über unsere gemeinsamen tiefen geistigen Wurzeln. Genau deshalb verlaufen unsere Aktivitäten im gesellschaftlichen Bereich so erfolgreich.

Übersetzung und Hervorhebung von mir.

Kaum jemand hat dieses Zitat von Putin mitbekommen. Und von denjenigen, die es mitbekommen haben, haben nur wenige verstanden, was es bedeutet.

Ein paar Kontext-Details sind notwendig, um es zu verstehen. Erstens ist es gut zu wissen, dass die katholische Kirche durch Abspaltung von der orthodoxen Kirche im 11. Jahrhundert entstanden ist. Die orthodoxe Kirche ist die von Jesus Christus gegründete Ursprungskirche. Organisatorisch nahm sie die Form von vielen regionalen Patriarchaten an, die einander gleichwertig sind und zueinander keine formale Hierarchie aufweisen. Das ist bis heute so in der orthodoxen Kirche. Das römische Patriarchat gehörte zu den größten und verdiente sich in den ersten Jahrhunderten großes Ansehen bei den anderen Patriarchaten. Mit der Zeit reichte es Rom aber nicht, der Erste unter Gleichen zu sein. Rom verlangte von den anderen Patriarchaten eine formal-hierarchische Unterwerfung, mit dem Endergebnis der Abspaltung. Wenn Putin also die tiefen geistigen Wurzeln von Russland und Europa anspricht, dann sind das orthodoxe Wurzeln, denen auch der Katholizismus entstammt.

Zweitens ist es gut zu wissen, dass Dostojewski ein russisch-orthodoxer Christ war. Als Autor hat er Glaubensfragen durchaus intensiv thematisiert. Dostojewski verwendete immer wieder einen Trick, um seine radikalsten Überzeugungen mitzuteilen: er legte sie gern in den Mund von geistig kranken oder zumindest sehr sonderbaren Gestalten. So geschehen unter anderem in seinem Roman “Der Idiot”, verfasst in den 1860-ern. Der Idiot, das ist Fürst Myschkin, ein geistig kranker Mann, der durch Zufall in die feine Petersburger Gesellschaft eintritt und sich dort als vernünftigster Mensch herausstellt. Aus diesem Roman ein kleiner Ausschnitt zum gegebenen Thema:

»Pawlischtschew war ein heller Geist und ein Christ, ein wahrer Christ«, sagte der Fürst plötzlich; »wie konnte er nur einen unchristlichen Glauben annehmen? Der Katholizismus ist geradezu ein unchristlicher Glaube!« fügte er mit blitzenden Augen hinzu, indem er vor sich hinschaute und alle Anwesenden gleichsam mit einem Blick zusammenfaßte.

»Na, das ist denn doch zuviel gesagt«, murmelte der Alte und blickte Iwan Fjodorowitsch erstaunt an.

»Wieso soll denn der Katholizismus ein unchristlicher Glaube sein?« fragte Iwan Petrowitsch, sich auf seinem Stuhl umwendend. »Und was für ein Glaube ist er denn?«

»Erstens ist er ein unchristlicher Glaube!« erwiderte der Fürst in großer Erregung und mit übermäßiger Schärfe. »Das ist das erste; und zweitens ist der römische Katholizismus sogar schlimmer als der Atheismus selbst; das ist meine Meinung! Ja, das ist meine Meinung! Der Atheismus predigt nur das Nichts; aber der Katholizismus geht weiter: er predigt einen entstellten Christus, einen durch Verleumdung und Beschimpfung karikierten Christus, das reine Gegenteil von Christus! Er predigt den Antichrist, das schwöre ich Ihnen, das versichere ich Ihnen![253] Das ist meine persönliche, langgehegte Überzeugung, die mir schon viel Pein bereitet hat … Der römische Katholizismus glaubt, daß ohne eine universale Herrschgewalt die Kirche auf Erden nicht bestehen kann, und ruft: ›Non possumus!‹ Meiner Ansicht nach ist der römische Katholizismus überhaupt kein Glaube, sondern einfach eine Fortsetzung des weströmischen Kaisertums, und es ist bei ihm alles, vom Glauben angefangen, dieser Idee untergeordnet. Der Papst hat ein Land in Besitz genommen, einen irdischen Thron bestiegen und das Schwert ergriffen; seitdem geht alles in dieser Art weiter; nur haben sie zum Schwert noch die Lüge, die Intrige, den Betrug, den Fanatismus, den Aberglauben und das Verbrechen hinzugefügt; sie haben mit den heiligsten, aufrichtigsten, schlichtesten, wärmsten Empfindungen des Volkes gespielt; alles, alles haben sie für Geld, für gemeine weltliche Macht hingegeben. Und das wäre nicht die Lehre des Antichrists?! Wie hätte da nicht der Atheismus von ihnen ausgehen sollen? Der Atheismus ist von ihnen ausgegangen, geradezu aus dem römischen Katholizismus! Der Atheismus hat zuallererst mit ihnen selbst angefangen: konnten sie denn auch sich selbst Glauben schenken? Er gewann dann aus dem gegen sie bestehenden Widerwillen Stärke; er ist ein Produkt ihrer Lüge und geistigen Kraftlosigkeit! Der Atheismus! Bei uns sind es bisher nur die höheren Schichten, die ihre Wurzel verloren haben und nicht mehr glauben, wie Jewgeni Pawlowitsch neulich sehr schön gesagt hat; aber dort, in Westeuropa, hören schon gewaltige Massen des eigentlichen Volkes auf zu glauben, früher aus Unwissenheit und Unwahrhaftigkeit, aber jetzt schon aus Fanatismus und aus Haß gegen die Kirche und gegen das Christentum.«

Der Fürst hielt inne, um Atem zu schöpfen. Er hatte furchtbar schnell gesprochen. Er war blaß und hatte keine Luft. Alle wechselten Blicke miteinander; aber endlich begann der Alte herzlich zu lachen. Fürst N. nahm[254] seine Lorgnette heraus und betrachtete den Fürsten unverwandt. Der deutsche Dichter kam aus seiner Ecke hervorgekrochen und näherte sich mit einem unangenehmen Lächeln dem Tisch.

»Sie ü-ber-trei-ben sehr«, sagte Iwan Petrowitsch, dieses Wort in die Länge ziehend, in etwas gelangweiltem Ton; es klang sogar so, als ob er sich über etwas schämte; »auch in der dortigen Kirche gibt es höchst achtungswerte, tu-gend-hafte Vertreter …«

»Ich habe nie von einzelnen Vertretern der Kirche gesprochen. Ich rede von dem, was das Wesen des römischen Katholizismus ausmacht; ich rede von Rom. Kann denn eine Kirche vollständig verschwinden? Ich habe das nie gesagt!«

»Einverstanden; aber all das ist bekannt und braucht daher nicht gesagt zu werden, und … es gehört zur Theologie …«

»O nein, o nein! Nicht nur zur Theologie, ich versichere es Ihnen, nein! Das geht uns weit mehr an, als Sie meinen. Gerade darin besteht unser ganzer Irrtum, daß wir noch nicht einsehen können, daß das nicht ausschließlich eine theologische Angelegenheit ist! Auch der Sozialismus ist ja ein Produkt des Katholizismus und des katholischen Wesens! Auch er ist, ebenso wie sein Bruder, der Atheismus, aus der Verzweiflung hervorgegangen, als Gegensatz zum Katholizismus im moralischen Sinn, um einen Ersatz für die verlorengegangene moralische Macht der Religion zu bilden, um den geistigen Durst der lechzenden Menschheit zu stillen und sie zu retten, nicht durch Christus, sondern ebenfalls durch Gewalttätigkeit! Das ist ebenfalls eine Freiheit durch Gewalttätigkeit; das ist ebenfalls eine Vereinigung durch Schwert und Blut! ›Erdreiste dich nicht, an Gott zu glauben; erdreiste dich nicht, Eigentum zu besitzen; erdreiste dich nicht, eine eigene Persönlichkeit zu haben! Fraternité ou la mort! Zwei Millionen Köpfe!‹ ›An ihren Taten sollt ihr sie erkennen‹, heißt es in der Schrift. Und glauben Sie[255] nicht, daß das alles so harmlos und für uns ungefährlich wäre; o nein, wir müssen Wider stand leisten, und auf das schnellste, auf das schnellste! Unser Christus muß als Schild dem Westen entgegenstrahlen, unser Christus, den wir uns bewahrt und den sie überhaupt nicht gekannt haben! Wir dürfen uns nicht sklavisch von den Jesuiten angeln lassen, sondern wir müssen ihnen jetzt entgegentreten, indem wir ihnen unsere russische Zivilisation bringen; und man darf bei uns nicht sagen, daß ihre Predigt elegant sei, wie sich soeben jemand geäußert hat …«

»Aber erlauben Sie, erlauben Sie«, unterbrach ihn Iwan Petrowitsch, der sich unruhig rings umblickte und sogar ordentlich Angst bekam; »alle Gedanken, die Sie da vortragen, sind ja gewiß sehr löblich und patriotisch; aber es ist doch alles im höchsten Grade übertrieben, und … es wäre das beste, wenn wir das Thema abbrächen …«

»Nein, übertrieben ist es nicht, eher zu schwach ausgedrückt; ja, es ist zu schwach ausgedrückt, weil ich nicht imstande bin, die richtigen Worte zu finden; aber …«

»Er-lau-ben Sie!«

Der Fürst schwieg. Er saß, gerade aufgerichtet, auf seinem Stuhl und blickte, ohne sich zu regen, Iwan Petrowitsch mit flammendem Blick an.

»Mir scheint, daß der Vorfall mit Ihrem Wohltäter Sie gar zu sehr übernommen hat«, bemerkte der Alte freundlich, und ohne seine Ruhe zu verlieren. »Sie sind etwas hitzig … vielleicht infolge Ihres einsamen Lebens. Wenn Sie mehr unter Menschen lebten (und ich hoffe, daß man sich in der guten Gesellschaft über Sie als über einen beachtenswerten jungen Mann freuen wird), so wird sich Ihre Lebhaftigkeit gewiß mildern, und Sie werden sehen, daß das alles weit einfacher ist … Und zudem gehen solche seltenen Fälle meiner Ansicht nach teils aus unserer Übersättigung hervor, teils aus … einer Art von Sehnsucht.«[256]

»Ganz richtig, ganz richtig!« rief der Fürst. »Ein vortrefflicher Gedanke! Jawohl, aus einer Art von Sehnsucht, aus einer Art von Sehnsucht! Aber nicht aus Übersättigung, sondern im Gegenteil aus Durst … nicht aus Übersättigung, darin haben Sie sich geirrt! Aus Durst ist noch zu wenig gesagt: aus brennendem, fieberhaftem Durst! Und … und glauben Sie nicht, das geschehe in so geringem Umfang, daß man darüber lachen dürfe; verzeihen Sie, man muß verstehen, in die Zukunft zu schauen! Wenn unsere Landsleute das Ufer erreicht haben und zu der Überzeugung gelangt sind, daß das das Ufer ist, dann freuen sie sich darüber gleich dermaßen, daß sie sofort weitergehen, so weit wie nur irgend möglich; woher kommt das? Da wundern Sie sich nun über Pawlischtschew und schreiben alles seiner Verdrehtheit oder seiner Herzensgüte zu; aber dem ist nicht so! Und nicht uns allein, sondern gar Europa setzt in solchen Fällen unsere russische Leidenschaftlichkeit in Erstaunen: wenn bei uns jemand zum Katholizismus übertritt, dann wird er auch gleich unfehlbar Jesuit und gleich einer der schlimmsten; und wenn einer Atheist wird, dann fordert er unfehlbar sofort eine gewaltsame Ausrottung des Gottesglaubens, das heißt also eine Ausrottung mit dem Schwert. Woher kommt das? Woher auf einmal ein solcher Fanatismus? Wissen Sie es wirklich nicht? Das kommt daher, daß der Betreffende ein Vaterland gefunden hat, das ihm hier fehlte, und sich darüber gefreut hat; er hat ein Ufer gefunden, Land gefunden und hat sich hingeworfen, um es zu küssen! Nicht aus bloßer Eitelkeit, nicht immer nur aus häßlichen, eitlen Motiven werden die Russen Atheisten oder Jesuiten, sondern auch aus seelischem Schmerz, aus seelischem Durst, aus Sehnsucht nach Höherem, nach einem festen Ufer, nach einer Heimat, an die sie aufgehört hatten zu glauben, weil sie sie niemals gekannt hatten! Atheist zu werden ist für einen Russen so überaus leicht, leichter als für alle übrigen Menschen in der ganzen Welt! Und unsere Landsleute[257] werden nicht einfach Atheisten, sondern glauben unfehlbar an den Atheismus, wie an einen neuen Glauben, ohne zu bemerken, daß sie an ein Nichts glauben. So groß ist unser seelischer Durst! ›Wer keinen Boden unter sich hat, der hat auch keinen Gott!‹ Dieser Ausdruck rührt nicht von mir her, sondern von einem altgläubigen Kaufmann, mit dem ich auf einer Reise zusammentraf. Er drückte sich allerdings nicht ganz so aus, sondern sagte: ›Wer sich von seiner Heimat losgesagt hat, der hat sich auch von seinem Gott losgesagt.‹ Man braucht nur daran zu denken, daß bei uns die gebildetsten Leute sogar in die Sekte der Geißler eintraten … Und inwiefern ist übrigens in solchem Falle das Geißlerwesen schlechter als der Nihilismus, das Jesuitentum und der Atheismus? Man kann vielleicht sogar sagen, daß es mehr innerliche Tiefe besitzt! Aber da sieht man, wie weit jene Sehnsucht gelangt ist …! Man zeige den fieberhaft dürstenden Gefährten des Kolumbus das Gestade der Neuen Welt, man zeige dem Russen das wahre Russentum, man lasse ihn dieses Gold, diesen Schatz finden, der seinen Augen bisher in der Erde verborgen ist! Man zeige ihm, wie sich in der Zukunft die Erneuerung und Auferstehung der ganzen Menschheit vielleicht einzig und allein durch den russischen Gedanken, durch den russischen Gott und den russischen Christus vollziehen wird, und man wird sehen, welch ein starker, wahrheitsliebender, weiser, sanfter Riese vor den Augen der erstaunten Welt heranwachsen wird; erstaunt und erschrocken wird die Welt aber allerdings sein, weil sie von uns nur das Schwert erwartet, das Schwert und Gewalttätigkeit; denn da sie nach sich selbst urteilt, kann sie sich uns nicht ohne Barbarentum vorstellen. So ist das bisher gewesen, und dieses Sehnen wird, je länger es dauert, immer stärker und …«

Aber hier trat plötzlich ein Ereignis ein, und die Rede des Fürsten wurde in einer ganz unerwarteten Weise unterbrochen.

Aus dieser Quelle zitiert.

Wenn der katholische Papst seinen Priestern ein tiefes Durchdringen von Dostojewskis Philosophie empfiehlt, damit sie richtige Priester werden können, kann das unter Einbezug des Kontextes schon sonderbar wirken, nicht wahr?

Der Papst und Putin zünden eine Bombe im Vatikan. Wohin das wohl führen soll…

Veröffentlicht in Analysen Getagged mit: ,