Zur liberalen Selbstkastration der Politik

Erst kürzlich haben wir im Blog die strukturellen Probleme der westlichen Wirtschaft angerissen:

Sollte die EU ein großes Atomwaffen-Entwicklungsprojekt starten, ist das Ergebnis absolut vorhersehbar: Industrie und Forschung werden selbstbewusst darlegen, wie geil sie die Aufgabe meistern werden. Sie werden die Milliarden, die Ihnen dafür gegeben werden, freudevoll annehmen, den versprochenen Kostenrahmen und die Deadlines exponentiell ausdehnen und in den kommenden fünfzig Jahren doch nicht bis zur tauglichen Serienfertigung gelangen. Die Gründe dafür sind tief verwurzelt und nicht schnell zu ändern. (…) wer die Wirtschaft so weit liberalisiert, dass niemand mehr da ist, der große Projekte mit jahrzehntelanger Laufzeit streng kontrolliert und koordiniert, kann eben keine Projekte umsetzen, die aufgrund ihrer Komplexität jahrzehntelange geduldige Investitionen und Kontrolle erfordern. Die in Quartalen denkende freie Wirtschaft ist dazu nicht in der Lage, was man sehr deutlich am kläglichen Abschneiden sämtlicher westlicher Atomreaktor-Baukonzerne sehen kann.

Das lohnt eine Vertiefung, zumal sich ein aktuelles Beispiel für das angesprochene strukturelle Problem aufdrängt. Manch einer wird mitbekommen haben, dass die Kanzlerin Deutschland in Sachen Digitalisierung und künstliche Intelligenz an die Weltspitze katapultieren will. Dazu sagt Prof. Tobias Kollmann:

Gleichzeitig muss man feststellen, dass die Programme, die aufgesetzt werden, wie aktuell auch die neue Strategie zur Künstlichen Intelligenz, letztendlich immer nur das Bereitstellen eines gewissen Geldtopfes ist. Das, was damit zu tun ist und das auch noch aktiv zu begleiten, das ist etwas, was man im politischen Kontext nur sehr wenig beobachten kann.

Ja, die westliche neoliberale Politik mit ihrem religiösem Glauben an die totale Effizienz der freien Wirtschaft, gestaltet keine Wirtschaftsprojekte, sondern lässt einfach Geld über diejenigen Industriezweife regnen, die als wichtig erachtet werden. Der neoliberale Glaube besagt, dass die geile freie Wirtschaft dann alles magisch von selbst regelt und tolle Ergebnisse liefert. Aber das einzige, was die Wirtschaft mit verlässlicher Effizienz liefert, ist das Verschlingen der ausgeschütteten Kohle. Jeder Konzern, jedes Unternehmen, jede Uni und jeder Professor bewerben sich mit ihren Ideen, bekommen dafür Geld und kochen ihr Süppchen. Alle sind glücklich, aber den großen Durchbruch gibt es dabei nicht, wenn die Probleme, die gelöst werden sollen, viel größer sind als die Probleme, die ein Professor, eine Uni, ein Unternehmen oder ein Konzern alleine stemmen kann. Bei Vorhaben solcher Größenordnung muss jemand die Führung und die Koordination übernehmen. Das kann nur der Staat sein, aber der neoliberale Staat verweigert sich.

Das war schon mit der Energiewende so, weshalb sie in der Sackgasse angekommen ist. Während man überall Solaranlagen und Windkrafträder hingeklatscht hat, kümmerte sich niemand darum, das Problem der Energiespeicherung und des Netzausbaus zu lösen. Was nützt es, wenn bei viel Sonnenschein und günstigem Wind der gesamte tägliche Energiebedarf Deutschlands mit Wind- und Solarstrom gedeckt werden kann? Am nächsten Tag ist es bedeckt und windstill – aber 100% der Wirtschaft und der Bevölkerung erwarten Strom aus der Steckdose in dem Ausmaß, in dem sie es lustig haben. Das bedeutet, dass die konventionellen Stromerzeuger, die unabhängig von der Witterung arbeiten, in einem Umfang erhalten werden müssen, um den Großteil der täglichen Energieerzeugung zu decken. Das sind keine überraschenden Erkenntnisse, die uns erst jetzt offenbar werden. Jeder vernünftige Ingenieur konnte das vor dem Bau des ersten Windrades vorrechnen. Aus der Erkenntnis bevorstehender Probleme ergibt sich die Notwendigkeit eines Plans, der die Problemlösung beinhaltet, und dann die Notwendigkeit der Durchsetzung des Plans. Außer dem Staat hat niemand die Befugnis, die Kompetenz oder auch nur den Willen dazu. Der Unternehmer, der Solarzellen baut, interessiert sich nicht dafür, wie die Netzbetreiber mit Versorgungsengpässen oder Überversorgung klar kommen. Das ist nicht sein Bier. Der Professor, der an der Effzienzsteigerung der Solarzellen arbeitet, kann nicht auch an der Speicherung der Energie und dem Ausbau der Netze und all den anderen Themen arbeiten. Der Staat hätte die notwendigen Arbeiten bestimmen, verteilen und über die Durchführung wachen sollen – im Gegenzug hätte er Geld an diejenigen verteilt, die sich an der Arbeit beteiligen. Stattdessen hat der Staat den Wunsch nach einer Energiewende ausgesprochen und Geld regnen lassen. Jeder tat, wozu er Lust hatte oder was die meisten Gewinne abwarf. Das, was zusätzlich getan werden musste, aber schwieriger oder nicht gewinnbringend erschien, wurde einfach nicht getan. Und so hat Deutschland eine medial gefeierte Energiewende, die sich darin erschöpft, parallele Strukturen der Energieerzeugung zu pflegen (was der Verbraucher bezahlt) und seine Nachbarstaaten mit dem Auffangen der Schwankungen in der Energieproduktion zu belasten.

Das wird mit dem neuen Digitalisierungs-Durchbruch auch so sein. So funktioniert der neoliberale Staat nun mal. Sich dem Dienst an der Bevölkerung und den großen Aufgaben verweigern und einfach das Geld an die Wirtschaft ausschütten. Deswegen verliert der Westen auch gegen China und Russland. Ob in der Armee, in einem Staat oder in einem Unternehmen – wenn die Führung sich der Führungsaufgabe verweigert, kann der Erfolg allenfalls ein Zufallsprodukt sein; aber bei hochkomplexen Problemstellungen gibt es keine erfolgreichen Zufallsprodukte, geht nichts ohne sorgfältige Planung und disziplinierte Durchführung.

In diesem Zusammenhang kann man sich aus Spaß an der Freude die Frage stellen, welche Parteien in Deutschland einen alternativen Kurs bezüglich des angesprochenen Themas vertreten.

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