Weg frei für Atomenergie

Die EU-Kommission hat ein Papier veröffentlicht (Technical assessment of nuclear energy with respect to the ‘do no significant harm’ criteria of Regulation (EU) 2020/852 (‘Taxonomy Regulation’)), welches Stellung zur nuklearen Energie nimmt. Fazit: Atomenergie ist so umweltfreundlich, wie Wind- oder Wasserenergie – gehört also zum Allerbesten, was es aktuell gibt. In die Beurteilung ist der gesamte Lebenszyklus der Energiegewinnung eingeflossen, vom Uranabbau bis hin zur Lagerung des verstrahlten Endmaterials. In die Beurteilung sind auch die Auswirkungen auf die Gesundheit eingeflossen, einschließlich der periodisch auftretenden schweren Unfälle.

Das Thema Umwelt ist hochgradig politisch. Politische Entscheidungen, Medienberichte und wissenschaftliche Studien (insbesondere von politischen Instututionen in Auftrag gegebene) sind keinesfalls unabhängig und objektiv, sondern folgen der politischen Agenda. Wir wollen daher außer Acht lassen, ob das, was die EU-Wissenschaftler im Auftrag der EU-Kommission über die Umweltfreundlichkeit von Atomenergie herausgefunden haben, wirklich stimmt. Das ist keine Ironie, lassen wir es wirklich offen. Was die Experten da behaupten, könnte stimmen – oder auch nicht. Hier in diesem Blog ist der politische Aspekt von größerem Interesse.

Wir stellen fest, dass nach Jahren und Jahrzehnten, in denen Atomenergie in der öffentlichen Wahrnehmung schlecht gemacht und “grüne Energie” penetrant beworben wurde, nun plötzlich von höchster politischer Ebene die Atomenergie in ihrer Umweltfreundlichkeit der “grünen Energie” gleichgesetzt wird. Was ist passiert?

Folgendes ist passiert: Das Wunschdenken zerschellt an der wirtschaftlichen Realität. Ein kleiner Exkurs in die Energiewirtschaft. Das moderne Leben, wie wir es leben, ist ohne Strom unmöglich. Wir halten es für eine Selbstverständlichkeit, dass Strom aus der Steckdose kommt und immer so viel davon da ist, wie wir brauchen. Ob nur eine Glühbirne mit 20 Watt Leistung oder alles gleichzeitig (Wasserkocher, Waschmaschine, Spülmaschine, elektrisch beheizte Dusche, Leuchtmittel, mehrere Fernseher und PCs) mit 6000 Watt Leistung – es funktioniert scheinbar automagisch. Die Industrie mit all ihren Maschinen hängt auch am Tropf der Stromlieferanten. Damit niemand Ausfälle leiden muss, wird stets etwas mehr Strom produziert, als tatsächlich verbraucht wird. Und der tägliche Stromverbrauch unterliegt einer klaren tageszeitlichen Schwankung.

Wenn man klassisch fossile Energieträger zur Stromgewinnung verbrennt, hat man kein Problem damit, sich tageszeitlichen Bedarfsschwankungen anzupassen. Nachts schmeißt man wenig Kohle in den Ofen, tagsüber mehr – maximal vereinfacht. Mit der zunehmenden Verwendung von Wind- und Sonnenenergie stellt sich ein grundlegendes Problem: Der Wind weht, wann er will, die Sonne wird von Wolken verdeckt, wann immer sie es wollen. Von der regelmäßigen tageszeitlichen Schwankung des Strombedarfs einer Industriegesellschaft wissen Wind, Sonne und Wolken nichts. Wenn es bewölkt und windstill ist, ist der Beitrag der neuen “grünen Energie” nahe Null, der Bedarf aber unverändert. Die Presse trägt feierlich vor, wenn 80% des Tagesbedarfs von “grüner Energie” gedeckt wurde – juchei! Sie verschweigt, dass das üblicherweise im April passiert, wenn Heizenergie nicht mehr benötigt wird, Kühlenergie noch nicht benötigt wird, regelmäßig frischer Wind weht und die Sonne sich auch regelmäßig zeigt. Wenn also optimale Bedingungen herrschen. Wenn es aber Winter, bewölkt und windstill ist, wenn maximal geheizt werden muss und auch der Bedarf an Beleuchtung sein Maximum erreicht – wie viel trägt die “grüne Energie” in dieser Konstellation bei? 0-5%. Der Strom muss aber trotzdem fließen.

Was tun? Die klassischen Energieerzeuger müssen weiter bereitgehalten werden und 100% des maximalen Bedarfs abdecken können. Vom technischen Standpunkt aus kann man noch so viele Windräder und Solaranlagen hinpflanzen – wenn die Anforderung zur umfänglichen Abdeckung des Strombedarfs nicht aufgehoben wird, kann man die bösen alten fossilen Stromgewinnungsanlagen kaum abschaffen. Das Politikum verlangt aber genau diese Abschaffung. Sonst ist irgendwie schwer vermittelbar, dass wir eine Energiewende haben.

Die Manövrierfähigkeit beginnt zu sinken. Wenn kräftig Wind weht, aber gerade kein großer Strombedarf ist, muss man Kohlekraftwerke herunterfahren. Und umgekehrt: Bei Windstille und aktuell hohem Tagesbedarf müssen die Kohlekraftwerke unter Volllast gefahren werden. Je mehr “grüne”, also instabile Energieproduzenten im System sind, und je weniger klassische, auf fossilen Energieträgern basierte Energieproduzenten dem gegenüber stehen, desto wahrscheinlicher wird es, dass zu irgendeinem Zeitpunkt der Bedarf plötzlich nicht gedeckt werden kann, oder dass zu irgendeinem Zeitpunkt hohe Stromüberschüsse entstehen, die ungenutzt bleiben. Wenn die “grüne Energie” aus Wind und Sonne bis zu 20% der Gesamtenergie ausmacht, trägt sich das System noch selbst. Ab dann beginnt es kritisch zu werden.

Eine Zeitlang behilft man sich damit, dass die Nachbarstaaten über verbundene Energienetzwerke ausgleichend tätig werden. So geschehen mit Deutschland. Wenn in Deutschland heftig Wind weht, aber der Eigenbedarf an Strom gerade niedrig ist, wird der Strom z.B. nach Tschechien geleitet und tschechische konventionelle Kraftwerke müssen heruntergefahren werden. Umgekehrt müssen tschechische Kraftwerke hochgefahren werden, wenn in Deutschland Windstille ist. Tschechien steht hier stellvertretend auch für andere deutsche Nachbarn. Schon vor vielen Jahren haben sich die deutschen Nachbarn beschwert, dass sie ihre eigene Manövrierfähigkeit schon erreicht haben, nur um Deutschlands Grüne Revolution mitzutragen. Wenn aber schon Deutschlands Nachbarn für die deutsche Grüne Revolution eingespannt werden und Deutschland noch immer weit weg davon ist, sich von fossilen Energieträgern zu lösen, wie sollen dann die deutschen Nachbarn selbst ihre Grüne Revolution vollziehen?

Theoretisch ließen sich all diese Probleme lösen, wenn man Energie in großen Umfängen speichern könnte. Wenn viel Wind weht, wird Energie gespeichert, bei Windstille wird von der angespeicherten Energie gezehrt. Machen wir es kurz: Die Speicherumfänge, die nötig wären, sind so exorbitant, dass keine aktuelle oder mittelfristig absehbare Technologie in Frage kommt. Außerdem sind bei jeder denkbaren Technologie die Verslute beim Hin- und Herkonvertieren untragbar hoch.

Kurzum, das Spiel mit der Grünen Revolution ist an technische Hürden gestoßen. Es wird an allen Ecken und Kanten optimiert, die Energiesysteme innerhalb der EU werden immer mehr vernetzt, um die Manövrierfähigkeit zu erhöhen, aber das Grundproblem kann nicht gelöst werden: Wind und Sonne sind keine stetigen Energiequellen, der Strombedarf einer Industrienation ist aber stetig. Das ist die physikalische Realität, kein politischer Wille und kein Voodoo können daran etwas ändern. Man kann natürlich lange versuchen, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, aber am Ende gewinnt die Wand.

Was die EU als Industriestandort braucht, ist stetige Stromenergie in großen Mengen. Da haben wir die fossile Energie und die Kernenergie. Beide liefern unabhängig von Wind und Wetter Strom. Beide wurden politisch schlecht geredet. Von Kohle will man ganz weg. Wodurch ersetzen? Gas soll nur eine Brückentechnologie sein. Wodurch ersetzen? Öl ist auch böse. Wodurch ersetzen?

Irgendwie muss die EU aus dieser Sackgasse raus. Kernenergie ist eine stetige Stromquelle. Die EU hat eigene Technologien in diesem Bereich. Bis auf Deutschland ist die Kernenergie auch nicht so politisch verteufelt wie manche fossile Energieträger. Viele EU-Staaten nutzen Kernenergie, setzen auch weiter darauf und bauen neue Reaktoren. Die EU-Spitze hat beschlossen, dass Kernenergie einen Beitrag zur Stabilisierung des EU-Energiehaushalts leisten soll.

Deutschland befindet sich in einer spannenden Lage. Wir erinnern uns, dass Deutschland schon zwei Jahrzehnte lang daran arbeitet, sich von der Atomenergie zu verabschieden. Die erste rot-grüne Regierung hat das in die Wege geleitet. Gesetze zur Abschaltung der existierenden Atomkraftwerke wurden beschlossen, Technologien wurden verkauft, Neu- und Weiterentwicklungen wurden eingestellt, Wissensträger sind ins Ausland abgewandert (Putin berichtete neulich erst davon, dass viele deutsche Atomenergie-Experten inzwischen in Russland tätig sind).

Eine Kehrtwende muss her. Im Lauf des vergangenen Jahres sind mir in der deutschen Presse mehrere Artikel aufgefallen, die sich, verglichen mit den Vorjahren, auffallend positiv über die Atomenergie ausgelassen haben. Jetzt gibt es auch den politischen Segen von der EU-Spitze, flankiert vom bestellten wissenschaftlichen Segen.

Die große Frage ist, ob Deutschland genug Hirnschmalz aufbringen kann, um aus eigener Kraft neue Reaktoren der Generation 3+ zu entwickeln. Das ist nicht selbstverständlich. Franzosen und Amerikaner haben z.B. große Probleme damit, obwohl sie ihre Arbeit an der Atomenergie nie unterbrochen haben. In politischer Hinsicht bietet sich für Deutschland eine Kooperation mit Frankreich an. In technischer Hinsicht wäre eine Kooperation mit Russland viel besser, weil Russland das absolute Nonplusultra in der Atomenergie ist, mit ausgereiften Konzepten für den gesamten Lebenszyklus.

Eine offene Frage ist, ob die EU zumindest den eigenen Markt für sich behalten kann. Versuchen wird sie es auf jeden Fall. Siehe z.B. den frischen Skandal in Tschechien, in dessen Folge Russlands Rosatom von der Ausschreibung für den Bau neuer Reaktoren ausgeschlossen wurde. Das Problem der EU ist, dass die eigenen Atomtechnologien, von denen es aktuell nur die französischen gibt, nicht konkurrenzfähig sind. Nach dem neuen politischen Segen der EU dürfen wir aber zumindest den Versuch erwarten, zu Russland aufzuschließen. Zum Beispiel mit vereinten deutsch-französischen Kräften und Finanzspritzen aus Brüssel.

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