Ukrainische Front kurz vor dem Zusammenbruch

Im Januar ist der Bürgerkrieg in der Ukraine in eine neue Kriegsphase eingetreten. Es wird wieder mit höchster Intensität gekämpft. Auf der einen Seite stehen die ukrainische Armee und eine Vielzahl freier Bataillone, von denen längst nicht alle dem ukrainischen Generalstab gehorchen. Auf der anderen Seite die Armee der Lugansker und Donezker Volksrepubliken (LDVR).

Inzwischen ist unübersehbar, dass die ukrainische Frontlinie zusammenbricht. Der Prozess beginnt gerade dieser Tage. Für den unbedarften Beobachter sieht es noch nicht so aus, dass die Front zusammenbricht, denn die ukrainische Armee hat nur ein paar Checkpoints und ein paar Dörfer verloren. Aber es knirscht schon im Gebälk und wenn der Knoten platzt, wird alles sehr schnell gehen und die ukrainische Armee wird in wenigen Tagen oder Wochen riesige Gebiete abtreten müssen.

Woran erkennt man sowas?

  • Die ukrainische Armee hat bereits die meisten ihrer Reserven aus dem Hinterland an die Front geworfen.
  • Die ukrainische Armee ist in Artilleriegefechten klar unterlegen. Die Artillerie ist das entscheidende Element dieses Krieges.
  • Die ukrainische Armee setzt Artilleriemunition aus den 60ern Jahren ein, d.h. es werden die letzten Reserven aus der Sowjetzeit aufgebraucht.
  • Die Meldungen der Frontsoldaten in den sozialen Medien verbreiten das Gegenteil von Zuversicht. Die Kampfmoral ist schwach. Mitunter herrscht einfach Panik.
  • In der ukrainischen Bevölkerung ist der Rückhalt für die Regierung und den Krieg sehr gering. Im Frühjahr glaubten die Menschen an einen schnellen Sieg. Auf den langen, blutigen, extrem verlustreichen Krieg hat niemand Lust. Mütter verhindern, dass ihre Söhne in die Armee eingezogen werden (inzwischen läuft schon die 4. Mobilisationswelle), viele Zwangsrekrutierten desertieren oder ergeben sich sehr schnell.
  • Die LDVR-Armee hat den Großteil ihrer Reserve noch in Hinterland; wenn diese zum Einsatz kommt, hat die ukrainische Armee dem nichts mehr entgegenzusetzen.
  • Die Kampfmoral der LDVR-Armee ist ungleich höher. Der Rückhalt in der Bevölkerung ebenfalls.
  • Die LDVR-Armee hat keine Versorgungsschwierigkeiten.

Wie konnte es dazu kommen?

Im Frühjahr/Sommer 2014 war die ukrainische Armee den Volksmilizen von LDVR (damals hatten die Republiken noch keine Armee) gnadenlos überlegen. Der geplante Blitzkrieg konnte nicht erfolgreich beendet werden und verwandelte sich in einen Stellungskrieg. Die Volksmilizen verwandelten sich in einem mühsamen (und teilweise blutigen) Prozess zu einer einheitlichen Armee mit einem Generalstab. Während im letzten Sommer noch einzelne Einheiten autonom agierten, gibt es in LDVR jetzt eine koordinierte Armee.

In der ukrainischen Armee vollzog sich die gegenteilige Entwicklung. Im Frühjahr 2014 bildeten sich über 40 territoriale Bataillone, die verschiedenen Strukturen unterstanden. Der ukrainische Oligarch Kolomojski bezahlt und kontrolliert einen großen Teil davon und verfügt bereits über eine bemerkenswerte Privatarmee. Die Kampfhandlungen der ukrainischen Armee und der freien Bataillone waren nicht besonders koordiniert und werden zunehmend unkoordinierter. Jarosch, der Anführer des Rechten Sektors und Kolomojskis Vasall, hat vor wenigen Tagen verkündet, dass man bereits an einem zweiten Generalstab arbeite.

Die ukrainische Armee (mehrheitlich bestehend aus normalen Soldaten und Wehrdienstleistenden) und die Nazi-Bataillone können sich nicht gut leiden. Immer wieder ist zu lesen, dass sie sich gegenseitig bekämpfen. Tatsächlich hat Kiew sogar versucht, und versucht weiterhin, die Nazi-Bataillone an die heißesten Brennpunkte der Front zu schicken, damit sie dort vernichtet werden. Die vielen Kessel, in denen ukrainische Militärs aufgerieben wurden, sind wahrscheinlich vom ukrainischen Generalstab bewusst in Kauf genommen worden. Es ist wohl kein Zufall, dass immer viele Nazis in diesen Kesseln gelandet sind. Eine weitere Strategie, um die von Kiew nicht kontrollierbaren freien Bataillone unter Kontrolle zu bekommen, bestand darin, die Verluste der regulären ukrainischen Armee mit Leuten aus den freien Bataillonen aufzufüllen.

Jedenfalls ist es Kiew nicht gelungen, ein einziges Oberkommando für die vielen Militärstrukturen durchzusetzen. Der Zusammenbruch der Front wird auch zum Bruch in der ukrainischen Militärlandschaft führen. Kolomojski wird offiziell die Kontrolle über einen großen Teil davon bekommen (faktisch hat er sie schon). Wer übernimmt die Führung über die reguläre ukrainische Armee? Sie ist sehr schwach im Vergleich zu 2014, aber sie ist immer noch stärker als Kolomojskis Privatarmee.

Aus der militärischen Zweierbeziehung Ukraine – LDVR wird mindestens eine Dreierbeziehung werden: Kolomojskis Privatarmee – reguläre Armee – LDVR-Armee. Da die geographische Position und militärische Schlagkraft der LDVR-Armee relativ klar sein werden, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Krieg zwischen Kolomojski und der regulären ukrainischen Armee entbrennen, bei dem beide Seiten ihr Kräfteverhältnis herausfinden werden und klären werden, wer welches Gebiet unter seine Kontrolle bekommt.

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